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Die Barockkanzel in der Dromersheimer Pfarrkirche
Bilder und Text © Werner Hochthurn

Man sieht oft etwas hundertmal, tausendmal,
ehe man es zum ersten Mal sieht.

Die Kanzel ist der erhöhte Standort für die Predigt, über eine Treppe ersteigbar, von einer Brüstung umgeben und meist von einem Schalldeckel überdacht. Der Name kommt von lat. Cancelli, „Gitter, Schranke“, die in der frühchristlichen Kirche Chor und Langhaus trennten. Dort stand der Ambo als Predigtort.
Im 13. Jh. wurde die Entstehung der Kanzel durch die Predigttätigkeit der Bettlerorden gefördert. Akustische Gründe können den Ausschlag gegeben haben, die Kanzel im vorderen Drittel oder in der Mitte des Hauptschiffes anzubringen.
Im Spätmittelalter wurde ihre Architektur mit figürlicher Schmuckvielfalt gestaltet. Die Barockkanzel wurde zu einem Prunk- und Schaugebilde. Gegenüber der Kanzel findet man auf der anderen Seite des Kirchenschiffes häufig ein größeres Kreuz.

Unsere Barockkanzel ist ein vierseitiger geschwungener Kanzelkorb mit seitlichem Aufgang. Nach unten ist ein Auszug mit silbernem Zapfen. Der Schalldeckel ist sehr wichtig, denn er reflektiert den Schall nach unten. Er ist durch eine Rückwand mit dem Kanzelkorb verbunden. Auf seiner Unterseite hat er in einem geometrischen Dreieck das Auge Gottes, das barocke Zeichen der Dreifaltigkeit, das in einem goldenen Strahlenkranz eingefasst ist. Nach oben ist der Schalldeckel hoch ausgezogen, durchstoßen, mit Volutenspangen, auf denen Vasen aufgesetzt sind. In der Mitte des Schalldeckels sind zwei geflügelte Engelsköpfe. Über dem Gesims steht ein Putto mit den Gesetzestafeln. Auf der Vorderseite der Brüstung sind zwei Kassettenfelder.


In einem Feld ist ein Buch (Bibel, Evangelium), in eine Stola eingeschlagen, dargestellt. Es sagt uns, dass die Kanzel für die Verkündigung des Evangeliums bestimmt ist. Die Stola ist das Zeichen des Priesteramtes. Nur der Priester durfte von der Kanzel predigen. Von Laien durfte sie nicht benutzt werden, auch nicht für Begrüßungen oder Ansagen.

Bei der tridentinischen Liturgie wurde die hl. Messe in lateinischer Sprache gehalten und auch das Evangelium wurde lateinisch vorgelesen, oft auch gesungen. Damit der Gottesdienstbesucher das Evangelium verstehen konnte, ging der Priester danach auf die Kanzel und las das Evangelium nochmals in deutscher Sprache vor. Er nahm dann einen Satz aus dem Evangelium als Thema seiner Predigt.


Das erste Bild weist uns auf das gesprochene Wort Gottes hin, während uns das zweite Bild das geschriebene Wort Gottes darstellt.
Die um 1780 entstandene Kanzel dürfte also kurz nach der Einweihung 1776 in die Kirche gekommen sein. Ein genaues Datum ist in der Kirchenchronik nicht aufgeführt. Die Kanzel hat eine Höhe von ca. 8,20 m, der Korb hat einen Durchmesser von ca. einem Meter. Das Material ist Holz, das in schwarz, rot und sandsteinfarben marmoriert ist. Die Ornamentik und das Strahlenkreuz sind vergoldet. Die Kanzel selbst erfüllt ihren Zweck, wenn sie aus Holz ist; sie bildet damit, wie ein Cello den Resonanzkasten für die Stimme des Predigers.

Durch die Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils wurde die Messliturgie neu gestaltet. Der Ambo, ein erhöhter Ort, von dem aus das Wort Gottes sowohl verlesen als auch in der Homilie ausgelegt wird, erhielt wieder eine größere Bedeutung. Er steht am vorderen Rand der Altarinsel als ein zweckentsprechendes, aber auch als künstlerisch gestaltetes Pult.
Zum Standort und Gestaltung stellen AEM (Allgemeine Einführung in das Messbuch) und PEM (Pastorale Einführung ins Messlektionar) zwei Grundforderungen an den Ambo: „Die Würde des Wortes Gottes erfordert für seine Verkündigung einen besonderen Ort in der Kirche, dem sich im Wortgottesdienst die Aufmerksamkeit der Gläubigen wie von selbst zuwendet“ (AEM 272). Der hohe Rang, der dem Ambo auch heute zukommt, entspricht der Würde des Wortes Gottes und der Bedeutung des Wortgottesdienstes. Er ist ausschließlich für die Feier des Schriftwortes da. Andere Dienste und Vollzüge, Begrüßung, Einführung, Abschluss der Feier sollen nie vom Ambo ausgehen (PEM 34). So sind der Tisch des Wortes (Ambo) und der Tisch des Mahles (Altar) die beiden Brennpunkte einer Ellipse in der einen Feier der Eucharistie. Ebenso wie der Altar muss der Ambo ein feststehendes Element sein, das nicht durch ein tragbares Lesepult ersetzt werden darf.

Epilog

Der Barock gilt als die letzte ganz Europa umfassende Stilepoche. Man bezeichnet ihn auch als Appell ans religiöse Gefühl. Mit seinem sinnlichen Überschwang und der dekorativen Beweglichkeit wendet er sich direkt an das religiöse Gefühl des Betrachters.
Ich habe lange gebraucht, um die beiden Bilder in den Kassettenfenstern zu erkennen und zu deuten. Viele Gespräche waren notwendig, und ich danke an dieser Stelle allen, die mir dabei geholfen haben. Vielleicht sehen Sie bei einem Besuch in unserer Kirche die Kanzel heute in einem ganz anderen Licht und erleben mit Begeisterung die sinnliche Barockkunst des Mittelalters.
Wenn diese Niederschrift begleitet wird von zwei Ereignissen, einmal vom Jahr des Glaubens, zu dem das kommende Jahr erklärt worden ist, und zum anderen von der Heiligsprechung und Erhebung zur Kirchenlehrerin der Heiligen Hildegard von Bingen, so ist das Zufall, und war mir zu Beginn meiner Aufzeichnungen nicht bewusst. Mögen aber gerade diese Ereignisse uns zum Nachdenken über unseren Glauben oder Unglauben anregen; denn sowohl Kanzel als auch Ambo sind Orte der Verkündigung unseres Glaubens.

Weihnachten 2012
Werner Hochthurn

Quellennachweis:
Brockhaus Lexikon
Eckhard Bieger: Das Bilderlexikon der christlichen Symbole
Pfr. H. Priesel: Wo Gottes Volk sich versammelt, Der Mittelpunkt 2009
A.M. Wellding: Kunstinventar

Mein Auge bestimmt mich weitgehend.
Wohin mein Auge schaut,
dorthin wird mein ganzes Wesen angezogen.
Unser Auge sieht nicht nur,
es entscheidet auch.
Denn was ich sehe, ist oftmals bereits
eine Mischung aus objektivem Tatbestand
und subjektiver Bewertung.
Mit unserem Blick schaffen wir uns die Umwelt.
Wie man etwas anschaut, zu dem wird es.
Deshalb ist die Art und Weise
des Blickes so lebensbestimmend.
Antoine de Saint-Exuperys (1900-1944) Wort,
„Man sieht nur mit dem Herzen gut“,
ist zwar schon sehr abgegriffen,
bleibt aber dennoch wahr.

P. Meinrad Dufner OSB